Claudia Desgranges

Farbe als Moment – Zu den Arbeiten von Claudia Desgranges // Roland Scotti

Wenn man heute über Farbmalerei liest, so wird selten thematisiert, dass die „Farbe an sich“, dass die „Farbe als eigener Wert“ in der langen Geschichte der Kunst erst seit relativ kurzer Zeit eine Rolle spielt. Farbe war in der Kunst bis weit in das 19. Jahrhundert Kolorit, Lokalfarbe, vielleicht noch Lichtfarbe – aber im Grunde wurde sie funktionell verwendet, hatte eine Aufgabe in einem letztendlich zeichnerisch definierten Bildgefüge.

Claudia Desgranges ist allerdings bereits in einem Umfeld „aufgewachsen“, in dem die Farbe als eigentliches Thema – nicht Motiv – der Kunst kaum mehr in Frage gestellt wurde. Unter Berufung auf die abstrakten Kompositionen eines Kandinsky, die konkreten Farbbilder eines Theo van Doesburg, die farbmystischen Bildfindungen eines Malevič und dann nach 1945 der Kunst des Informel oder der Abstrakten Expressionismus hatte sich – mit Schwerpunkten in den USA,  in Deutschland und weit eingegrenzter in der Schweiz – seit den 1970er Jahren eine Malerei der Farbe entwickelt, die mal „Radikale Malerei“ mal „Essentielle Malerei“, mal eben einfach „Farbmalerei“ genannt wird. Köln, der Lebensort von Desgranges, kann als einer der „Stützpunkte“ dieser Malrichtung bezeichnet werden – mit dem wohl, zumindest in Teilen seines Werks, bekanntesten Vertreter einer sich absolut setzenden Farbmalerei, Gerhard Richter.

Allerdings lässt sich gerade auf dem Gebiet der Farbmalerei kaum von einer „Schule“, geschweige denn einer einheitlichen, mit einem Stilbegriff zu bezeichnenden Kunstrichtung reden: Zu individuell sind die einzelnen künstlerischen Ansätze, malerischen Methoden und Bildgestalten – selbst wenn sie manchmal auf den ersten Blick ähnlich oder verwandt erscheinen mögen. Einzig in der (kunst-) theoretischen Begleitung, im Kommentar findet sich die Tendenz zur Vereinheitlichung – was sich wohl auch der Notwendigkeit verdankt, einem Publikum das Kunsthafte, die Bedeutungsschichten einer Malerei zu vermitteln, der es letztlich ausschließlich um die Erscheinung von Farbe geht. Beispielhaft für viele andere sei hier auf die Texte von Matthias Bleyl, Michael Fehr, Erich Franz, Jens Peter Koerver oder Amine Haase hingewiesen. 

Die künstlerische Arbeit von Claudia Desgranges kann man in diesem Umfeld, in dieser Praxis, Historie und Theoriebildung, verorten – und würde dann sicher Verwandtschaften, Ähnlichkeiten, gar Übereinstimmungen finden – und doch wäre letztlich mehr oder weniger alles falsch, was man über ihre spezifische Farbmalerei schreiben oder sagen würde. Denn Desgranges ist „à part“. Sie hat seit Mitte der 1980er Jahre in aufeinanderfolgenden Werkreihen eine Malerei erschaffen, welche die Möglichkeiten des Mediums auf eigenständige und trotz aller scheinbaren Objektivität sehr subjektive Art und Weise auslotet. Ebenso wie andere „Farbmaler“ thematisiert sie in ihrer Arbeit die primären und eigenwertigen Grundlagen jeder Malerei – eben wie Fläche, Struktur, Textur, Bildträger, Form des Farbauftrags und Farbe, aber relativ früh wird „Zeit“ als bildbestimmender Faktor in den Werken selbst aufgehoben, zum Bildgegenstand – nicht nur im Machen des Bildes, sondern auch – ganz bewusst von der Künstlerin verlagert – auch im Prozess der Bildwahrnehmung. 

Und schon sind wir im Feld der schiefen, der ungenauen Begriffe: Gegenstand, Werk, Bild, Zeit – all das sind Worte, die letztlich abstrakte oder von einer Sache abstrahierte Vorstellungswelten evozieren und wegführen von dem Wesentlichen der Arbeiten von Desgranges, der unmittelbaren sinnlichen Präsenz, einer besonderen Form der perpetuierten, ich möchte fast behaupten endlosen Gegenwart. Vielleicht hilft hier ein Verweis auf einen zentralen Begriff des Philosophen und Zeittheoretikers Henri Bergson: „Bewusstseinstatsache“. Obwohl wir, die Betrachter, jeden Arbeitsschritt der Künstlerin in jedem „Werk“ nachvollziehen können, das An- und Absetzen der Pinsel sehen, die Bewegung der hand und der Arme der Künstlerin ahnen, die Dichte oder Transparenz der Acrylfarbe und der verwendeten Pigmente erkennen, das Nebeneinander, das Überlagern oder das Verweben der Farbspuren fast nachmalen könnten – obwohl wir auch bei ihren Raumkompositionen die Kausalitäten der Raumbezüge rechnerisch oder intuitiv nachvollziehen können, bleibt ein Mehr, das sich jeder praktischen Nachahmung oder intellektuellen Aneignung entzieht, das selbst nicht mehr mit dem Gefühl erfassbar ist. Und das möchte ich vorerst mit dem Wort „Bewusstseinstatsache“ festhalten, ohne es zu sehr zu fixieren.

Vielleicht erschafft Desgranges farbige „Wahrnehmungsfelder“ – was bereits für ihre frühesten, auf die Farbe konzentrierten Werke aus den 1990er Jahren zuträfe und dann in den tatsächlich im Format am ehesten an traditionelle Bilder erinnernden, fast quadratischen Farbgesten oder Farbmodulationen auf Aluminiumplatten offensichtlich wird, um in den „zeitstreifen“ den „strips“, ab Anfang des 21. Jahrhunderts, und deren architektonische Anordnung in Ausstellungen zu „Wahrnehmungsräumen“ zu mutieren.

Das, was in diesen Wahrnehmungsräumen geschieht, was sich ereignet, das unterliegt einer „strengen“ Kontrolle, jenseits aller Willkür und Beliebigkeit. Desgranges ist möglicherweise weniger Malerin als Choreographin; die Geschichte, die sie erzählt, ist die Geschichte der Farbbewegungen, des Farbrhythmus, der Farbpausen, der Farbdauer, der Intensitäten des Erscheinens und Verschwindens. Das ist gespiegelte Lebenszeit, ohne anekdotisch zu werden, das ist vergegenwärtigte Natur, ohne Blumenbild zu werden, das ist ein autonomes Bild, ohne im angeblichen „Meisterwerk“ zu erstarren, das ist ein Selbstbildnis, in dem die Künstlerin mit ihrem Körper, ihrem Atem, ihren Bewegungen usw. anwesend ist, ohne sich selbst oder andere Menschen zu ikonisieren. Es ist eine Tatsache, entsprungen aus dem Bewusstsein der Künstlerin, im Moment, während der Dauer der Betrachtung eingeschrieben und aktualisiert im Bewusstsein des Betrachtenden.

Die Kontinuität des „Farbbewussteins“ der Künstlerin belegen die so genannten Farbtagebücher, deren Seiten sie seit 1993 mit „Restfarben“, aber auch „Neufarben“ bestreicht. In diesen „Tagebüchern“, man könnte auch sagen „Arbeitsbüchern“, spiegeln sich nicht nur die Farben, welche die Künstlerin in einem bestimmten Augenblick, für eine bestimmte Werkreihe benutzt hat. Beim Blick in die Bücher kann man in gewisser Weise auch ihre Interessen, Vorlieben, konzeptuellen Überlegungen „nachlesen“; die Bücher halten einen Arbeitsschritt fest und sind – wie jedes gute Buch – zugleich Ausgangspunkt oder gar Anlass für weitere Arbeitsschritte. Es sind die Notationen, die Schrittpartituren, auf die die Choreographin jederzeit zurückgreifen könnte – was sie auch macht. 

Spätestens seit 2003 thematisiert die Künstlerin auch die eigene „Malgeschichte“ – nicht indem sie ältere Bilder oder Werke wiederholt, aber durchaus, indem sie zeigt, dass eigenständig gemalte Farbplatten additiv miteinander verbunden werden können und trotz des additiven Verfahrens ein Bild entsteht, das „wie aus einem Guss“ erscheint. In ihrer jüngsten Werkreihe, den „combine paintings“, den „kombinierten Malereien“, hingegen betont sie gerade das Nacheinander, das Gegensätzliche unabhängig voneinander entstandener Farbtafeln. Mit dieser Werkreihe hebt sie endgültig die „Raum-Zeit-Einheit“ des traditionellen Bildgefüges auf: Claudia Desgranges präsentiert Farbmalerei als ein Phänomen, das in einem bestimmten Moment an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Bewusstsein als Tatsache erscheint; ob als Farbe oder als Kunst ist für mich eher zweitrangig. Weit wichtiger erscheint mir, dass wir für den Moment der Betrachtung der Farbe dem „Anblick der Welt“ enthoben sind – im Sinne eines Bonmots des Schriftstellers Edmond Jabés: „Lorsque nous lisons, le monde attend“ (solange wir lesen, wartet die Welt).