Farben in der Zeit – Christiane Zangs
Man stelle sich vor, ein Film würde im Zeitraffer zu schnell abgespult – Farbstreifen, ineinander zerfließende, auseinanderdriftende Formen, nur bestimmt durch ihren Farbwert, würden wahrgenommen werden können. Das gleiche Erlebnis hätte man bei ungeheuer schneller Fahrt, wenn beim Blick aus dem Ausschnitt des Fensters Städte, Menschen, Landschaften am Fenster vorbeirauschten, einen unendlichen Streifen von ineinander verschmolzenen Eindrücken bildend, wesentlich bestimmt durch Farben. Formen und Inhalte sind bei beiden Beispielen durch die ungeheuer schnelle Bewegung aufgelöst in Farbstreifen – Farbeindrücke, welche bestimmt sind durch die Schnelligkeit, eben die Zeit in der Bewegung. Gegenständliches verliert sich in der zeitlich schnellen Bewegung, in der es nur einen verschwindend kurzen Moment markiert. Erst die Momentaufnahme im Kunstwerk transformiert den Eindruck wieder in die Ewigkeit.
Diese beiden Beispiele sollen keinen Interpretationsansatz zu den Kunstwerken von Claudia Desgranges bieten, vielmehr dienen sie als Beleg für die Dominanz der Farbe in der Wahrnehmung in der Bewegung. Obwohl keine Einzelheiten wahrgenommen werden können, vermögen allein die Farben Stimmungswerte, eine Gestimmtheit des Gesamten und damit Gesamteindrücke zu vermitteln.
Dem Thema der Bewegung in der Zeit begegnen wir in den Werken von Claudia Desgranges nachvollziehbar auch im strengen Pinselduktus des Farbauftrags. In kontrollierten, sorgsam gesetzten Farbaufträgen neben- und auch übereinander in mehreren farbvermischenden, lasierenden Schichten werden Bewegung und Zeit für den Betrachter erlebbar. Neben den Abbrüchen steht die neu ansetzende Bewegung, meist eine neue Farbe, jedoch nie in scharfer, abrupter, sondern stets fließender ineinanderübergehender Konturierung. Dominant scheint die horizontale Bewegung, jedoch auch die vertikale gibt es, die Rhythmus und Akzent, auch Unterbrechung suggeriert oder gemeinsam mit der horizontalen eine Farbverdichtung ähnlich einer textilen Struktur von Kette und Schuß bildet. Farbverläufe und Farbkombinationen sind das vorherrschende Thema. Der Dialog der Farben, aufreizender Kolorismus und harmonisches Changieren sind von suggestiver Sinnlichkeit, bieten ästhetischeAnreize des Sehens. Dabei kommt eine besondere Experimentierfreude der Künstlerin mit Farben, ihrer Gestimmtheit, ihrer Wechselwirkung, ihrem Temperament und ihrer Präsenz zum Ausdruck.
Der Bildträger der neueren Arbeiten von Claudia Desgranges ist Aluminium, eine glatte, edle, stählern kalt schimmernde Oberfläche, die unsichtbar mit Abstand gehalten auf den Ausstellungswänden flach zu schweben scheint. Der Untergrund ist teilweise stehen gelassen, schimmert mit metallenen Reflexen durch zarte Farbschichten und entfaltet ein eigenes Vexierspiel des Lichtes und der Farben. Das Licht wird je nach Dichte des Farbauftrages unterschiedlich intensiv vom Malgrund eingefangen und widergespiegelt, woraus sich der Effekt der inneren Leuchtkraft des Werkes wie der Farben ergibt. Diese haften auf dem Untergrund, nachdem der Trocknungsprozeß vollzogen ist. Im Nachvollzug der Entstehung, der Überlagerung wie des Trocknungsprozesses begegnet ebenfalls das Thema „Zeit“.
Auch der Betrachter vermag sich schemen- und ausschnitthaft in dem Werk, in der Spiegelung der Aluminiumoberfläche zu erblicken vielleicht auch reflektierend (im wahrsten Sinne des Wortes) zu erkennen. Er wird wie der umgebende Raum oder das Licht Teil des Werkes, einbezogen in eine neue von der Künstlerin geschaffenen Realität. Umgebung und Betrachter bestimmen somit das Werk mit. In dem Prozeß der Reflexion ist eine höchst simple und doch komplexe Form der Kommunikation zwischen Werk und Betrachter zu sehen.
Die Werke entfachen geradezu eine eigene Aktivität und Intensität im Zusammenspiel mit dem Betrachter im gemeinsam umgebenden Raum. Sie sind allesamt mögliche Ausschnitte von Realität in ihrer zeitlichen und räumlichen Dimension. Die Erscheinung von Realität wie auch von Gegenständlichem wird in den Werken von Claudia Desgranges thematisiert zu einer Frage der Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter – die Aneignung von Wirklichkeit, als existenzielle Notwendigkeit bildet den Ausgangspunkt der künstlerischen Leistung.