Claudia Desgranges

Überblendung

In der Regel verbinden sich Kunst und Wohnen im privaten Bereich, hinter geschlossenen Wohnungstüren. Die Gestaltung des Wohnraums wird durch Kunst pointiert und individualisiert, meist besetzen Gemälde, Zeichnungen und Kunstdrucke die heute überwiegend weiß gestrichenen Wände. Ambitionierte Kunst am Bau–Projekte bleiben gewöhnlich repräsentativen öffentlichen Gebäuden vorbehalten. Anders in Bonn: Mit dem 2006 initiierten Projekt “Kunst und Wohnen” beschreitet die MiWO Gesellschaft für Mietwohnungsbau und –verwaltung aufregende neue Wege: Sie beauftragt bildende Künstler, in und an den von ihr verwalteten Mietshäusern im Bonner Stadtgebiet zu arbeiten, diese Orte permanent oder für einen festgelegten Zeitraum zu akzentuieren und dabei spezifische Eigenschaften der Architektur und des Außenraums entweder zu betonen oder zu kaschieren bzw. zu überblenden: 

In einem ersten Projekt nutzte Detlef Beer 2006 Mietpausen und malte je ein Bild für eine leer stehende Wohnung. Sobald diese neu vermietet war, verschwanden die Bilder, nur die Nagellöcher zeugten von ihrer temporären Anwesenheit. Friedhelm Falke hingegen schuf dauerhafte Bewohner, als er 2007 direkt auf Wände malte und damit Bild und Architektur zu einer Einheit verschmolz. Konsequent wurden dann Mieter gesucht, die mit den Bildern leben wollten, was auch gelang.

Im darauf folgenden Jahr “bekannte” Martin Noel “Farbe”, indem er an sieben Orten malerische Interventionen hinterließ, allesamt im gemeinsamen, öffentlichen Raum der Mieter: In verschiedenen Wohnanlagen hob er Briefkästen, die Gestänge der Wäschetore, Garagentore, Mülltonnennischen hervor, indem er sie in leuchtenden Farben übermalte oder grau gewordenen Putz mit Farbspuren und –flächen akzentuierte.

Claudia Desgranges künstlerische Eingriffe besetzen ebenfalls den Außenraum: Mit ihrem Auftaktprojekt — weitere werden in den kommenden Monaten folgen — überblendet sie die schmucklose, mit einer vertikal angeordneten Reihe kleiner Fensteröffnungen gegliederte Giebelwand eines der in den 1950er Jahren im Zeilenbau errichteten Mehrfamilienhäuser mit einer filmischen Projektion. Die Fassade wird zum überdimensionalen Bildschirm, der von vielen Standorten auf dem Gelände wie auch aus den gegenüberliegenden Wohnungen einsehbar ist.

In ihrem soeben fertig geschnittenen Film mit einer Lauflänge von 9 Minuten, der hier im Loop gezeigt wird, hat Claudia Desgranges Detailaufnahmen ihrer Malerei auf Papier mit Filmsequenzen überblendet, die sie im öffentlichen Raum, vorwiegend in Köln und München gedreht hat: Die meist horizontal auf Papier gesetzten, mit breitem Pinsel aufgetragenen Farbspuren treffen auf Bilder fahrender Straßenbahnen, gleitender Lastkähne und schwebender Luftschiffe, Linien in den Himmel schreibender Hochspannungsleitungen, bewegter Reklametafeln, hastender Passanten, auf Bilder von ihre Bahnen ziehenden Skatern und Surfern auf reißendem Gewässer. Claudia Desgranges zeigt uns ein Gewebe heterogener Bilder, Zeugnisse des pulsierenden Lebens der Großstadt, die verwoben sind mit solchen aus der Geschlossenheit des Ateliers. Die Übergänge zwischen diesen kontrastierenden Bildern sind nicht durch harte Schnitte, sondern mittels weicher Überblendungen hergestellt, die das Disparate in ein zusammenhängendes Geflecht, in eine neue Einheit überführen, die von einem zarten Klangteppich aus O–Tönen und Musik unterlegt ist. Öffentliches und privates, Allgemeines und Individuelles, Leben und Kunst fließen ineinander.

In ihrer gegenstandsfreien Malerei konzentriert sich Claudia Desgranges auf Farbe: auf den Kontrast der Farben und ihren Dialog, auf das Nebeneinander pastoser und hauchdünner Farbspuren und –schlieren, auf die Bewegungen und die Kraft, mit der der Arm den Pinsel führt und die sich in den Verläufen und Überlagerungen der Farbe widerspiegelt, und schließlich auf den Rhythmus der Bewegungen. Dieser Rhythmus überträgt sich in die sichtbaren Farbspuren, deren Länge ebenso variiert wie deren Dichte. So entwickelt sich auf oft lang gestreckten Bildträgern eine rhythmisierte Abfolge sich überlagernder Farbschichten, eine Abfolge von Verdichtung und Auflösung, von Form und Übergang, eine “Passage durch Raum und Zeit”. 

Das erklärte Interesse an zeitlichen Abläufen manifestiert sich im Titel einer Bildgruppe — “Zeitstreifen” — an der Claudia Desgranges in den Jahren 2003 bis 2005 konzentriert gearbeitet hat. Als ein solcher Versuch, im Malprozess Zeit zu konservieren, lassen sich auch die Farbtagebücher verstehen, in denen die Malerin Tag für Tag Spuren ihres künstlerischen Tuns auf je einer Doppelseite festhält. Blättert man die Seiten dieser von Farbe durchtränkten Bücher, so ergibt sich eine Bildsequenz, die filmischen Charakter hat. Man denkt an die sogenannten Daumenkinos, bei denen durch schnelles Abblättern einer Sequenz zusammengehöriger Phasen–Bilder die Illusion einer vollständigen Bewegung entsteht. Ein Effekt, der die kinematografische Projektion vorwegnimmt.

Öffentlich zeigte Claudia Desgranges diese Farbtagebücher erstmals im vergangenen Jahr in einer Ausstellung auf Burg Wissem in Troisdorf. Parallel realisierte sie damals eine Diaprojektion mit fotografierten Ausschnitten aus ihrer Malerei sowie einen kurzen Film mit bewegten Bildern aus dem städtischen Umfeld, die sie auf eine Wand im Ausstellungsraum projizierte. Auf diesem Wege holte sie das, was ihre Malerei ausklammert, die Realität, die Welt des Gegenständlichen, in den Kontext ihrer Kunst.

In dem soeben fertig gestellten Film sind diese disparaten Bildwelten nun fest miteinander verklammert. Immer neue bildliche Einheiten entstehen aus der Überblendung von gefilmten Bildfolgen und von Malerei, die ausschließlich aus den beschriebenen Farbtagebüchern stammt: Ein leuchtendes, horizontal gesetztes Rot–Orange auf weißem, partiell durchscheinendem Papier wird von der mäandernden Fahrt eines Skaters überblendet, ein Surfer löst sich im rot beleuchteten Flaschenregal einer Hotelbar auf, Passanten spiegeln sich in Scheiben, Flugzeuge durchziehen den Himmel, der sich unmerklich in eine blaue Farbfläche verwandelt. Farbe und Bewegung bilden die Klammer, die alles eint.

Statt Farbe Leinwand überblenden nun flackernden Filmbilder die Fassade — wie ein luftig gewebtes Kleid aus Licht und Farbe. In Analogie zum Film, in dem Individuelles und Allgemeines — Malerei und Realität — ineinander verwoben sind, überblendet nun das künstlerische, individuelle Statement einen städtischen Ort, geht eine temporäre Verbindung mit ihm ein, ohne ihn nachhaltig zu verändern. Die Bilder — die einzelnen im Film wie auch die gesamte Sequenz — scheinen auf und verschwinden. Nur kurzzeitig lenken sie den Blick auf einen Ort, der in der Regel — und besonders in der Dunkelheit — verschwindet, weil sich die Bewohner der Häuser, eingeschlossen in ihr privates Umfeld, von ihm abwenden.

Man wünscht diesem Projekt, dass für einen Abend alle Anwohner die disparaten Programme der öffentlichen und privaten Sender zugunsten des von Claudia Desgranges vorgeschlagenen “Programms” vergessen und gemeinsam in die Ferne Sehen. Projektionen im öffentlichen Raum haben in den vergangenen Jahren vielerorts Menschen bewegt. Dank lichtstarker Projektoren und riesiger Medienfassaden ist es möglich, künstlerische Positionen im Stadtraum sichtbar zu machen — an Orten, die lange der Werbung vorbehalten waren —, und damit Menschen anzusprechen, die in der Regel keine Museen besuchen. So strömen beispielsweise jährlich Tausende von Menschen während der sogenannten “Nuit Blanche” durch die nächtlichen Straßen von Paris. Sie werden angezogen von Projektionen und Filmen international renommierter Künstler, die die historischen Fassaden von Gebäuden, Bahnhöfen und Türmen überziehen und die bekannten Orte im Wortsinn in ein anderes Licht tauchen. In anderer Weise als beim Gang durch eine Ausstellung wird das Sehen zu einem gemeinsamen Erleben, das, auch wenn die Erscheinungen flüchtig sind, nachhaltig in Erinnerung bleibt. Claudia Desgranges zeigt uns — und den Bewohner der anliegenden Häuser — flüchtige Bilder, von denen wir nicht Besitz ergreifen können, deren Begreifen aber — wie es Josef Albers 1961 gesagt hat — Einsicht erwirken kann. 

 

Maria Müller